ihnen so hingenommen als ob jemand beim Kartenspiel verloren. Ich saß zusammen in meinem Büro mit einem SS-Offizier, einem ehemaligen Machtmenschen, dessen Aufgabe nun darin bestand, Schrauben für die Produktion zu bestellen und nun ein kleines Licht in der Masse war. Sein späterer Kollege schrieb 1943 in den Warsteiner-Heimatgrüßen von der russischen Front Lobeshymnen über seinen Führer. Aber heute weiß ich, warum man mir das Wort abschnitt, wenn ich im Büro über die Nazizeit sprechen wollte. Es war den Kollegen sehr unangenehm und meist wurden sie mit den Worten abgewürgt: „Was willst du junger Schnösel eigentlich, du hast doch keine Ahnung!“ Sie hatten insoweit recht, dass ich zu jung war, die Zeit bewusst geistig aufzunehmen, aber ich konnte lesen und hatte der Führungsebene Geld mir Bücher zu kaufen.
02. Oktober 1961 Unna/Hemer: Es herrschte eine diffuse Wetterlage, 19 Grad. Totale Windstille bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 89 %, der Himmel war größtenteils klar mit zeitweiser leichter Bewölkung. Die Menschen schwitzten schon bei absoluter Regungslosigkeit, vor allen Dingen auch deshalb, weil sie sich falsch angezogen hatten. Tage vorher war es lausig kalt und die meisten Bürger wollten auf Nummer sicher gehen. Soweit es möglich war, verhielt man sich passiv und meideten jede geringe Betätigung.
Wir hatten uns früh auf den Weg gemacht. Von Warstein nach Hemer waren es etwa 65 Kilometer. Bei den damaligen Straßenverhältnissen und den 19 PS meines Autos, sollten wir in 2 Stunden in an der Blücher-Kaserne sein. Wir waren zu viert mit meinem kleinen Fiat 600 – AR-AH11 unterwegs. Mein Vater fuhr und auf dem Beifahrersitz saß meine Mutter. Auf den Hintersitzen hatte ich es mir mit meiner Jugendfreundin Bärbel gemütlich gemacht. Am Ortsschild Hemer wurde es mir etwas mulmig. Zum ersten Mal auf lange Zeit weg von zu Hause, weg von den Eltern, von der Arbeit und den Freunden. Aber man sagte, es sollte nicht so schlimm sein bei der Bundeswehr, kein Vergleich mit der alten Wehrmacht. Als wir in die letzte Straße zur Kaserne einbogen, sah ich von weitem schon das Wachhäuschen und viel Gedränge. Mein Vater stoppte das Auto unmittelbar vor dem großen Stahltor. In diesem Moment, beim Anblick der bewaffneten Soldaten,
fing meine Mutter bitterlich an zu weinen. Zu nah waren noch die Erinnerungen an den zweiten und an den Tag, als sie ihren Mann bis ans Kasernentor brachte und lange Zeit nicht wusste, ob er noch lebte. Ich nahm sie in den Arm und versprach ihr, dass ich auf mich aufpassen würde. In den ersten Monaten meiner Abwesenheit von zu Hause schrieb ich ihr beinahe jede Woche einen Brief oder eine Post-karte. Meine Freundin Bärbel hat mich nicht ein einziges Mal besucht, sie schrieb noch zwei kurze und belanglose Briefe und dann war Funkstille. Ich sah sie 1972 in Meschede auf dem Postamt, mit dabei hatte sie zwei Kinder, es waren ihre.
Nun marschierte ich mit sechs Leidensgenossen von der Wache zum Kompanie-gebäude. Die Begrüßung am Wachhäuschen war eher unterkühlt. Kein Wunder bei dem Gedrängel, denn nicht nur die Wehrpflichtigen unserer Ausbildungs-kompanie 3/7 rückte an, sondern auch noch weiteren Einheiten, die hier statio-niert waren. Na ja, in meiner Kompanie, so glaubte ich, wird es wohl ruhiger und freundlicher zugehen. Ein Unteroffizier, den ich später nie wieder getroffen habe, stand vor dem Kompaniegebäude mit einem Schreibbrett und einem Bleistift in der Hand. Ich ging wortlos, ohne ihn zu beachten oder ihn zu begrüßen vorbei. Er drückte sein Missfallen aus, indem er hinter mir herrief: " Zu mir, Sie Arsch! " Ich war begeistert über diese freundliche Aufforderung.
Im Kompaniegebäude herrschte ein fürchterliches Gedränge und Geschrei. Die Kapos hatten soeben ihre Tischreihe abgebaut, an denen sie Neuankömmlinge mit ihren Listen verglichen und abgehakt hatten. Auf diesen Augenblick hatten sie gewartet. Die wilde Hatz begann. Sie wetzten wie wilde Straßenköter in den Fluren hin und her, sie blafften die neuen Wehrpflichtigen an und egal was die Frischlinge auch machten, es war immer falsch. Sie sorgten für ein chaotisches Durcheinander und machten uns klar, dass wir zu blöde sind ihre Anweisungen zu verstehen. Keiner wusste mehr, wo er war und wo er hinwollte. Mir wurde im ersten Stock die Stube 216 zugewiesen, mit sechs Betten, sechs Spinden, einem Tisch und sechs Stühlen.
Mein Bett war unten links hinter der Stubentür. Nach und nach trudelten die künftigen Stubenkameraden ein: Peter Grabs und Günther Eickmann kamen 10 Minuten nach mir und Leo Hoffmann, Kalle Beerwerth und Werner Döring fanden sich kurz danach auch ein. Nun waren wir komplett in der Stube 216. Ob sich jemand vorher darüber Gedanken gemacht hat, uns so zusammenzulegen? Ich glaube eher nicht. Aber in den drei Monaten entwickelte sich eine sehr enge Kameradschaft
In der Nebenstube 217 fanden sich für drei Monate zusammen: Waldemar Hauser , Walter Koschinski , Walter Rohmann, Ernst Schlenker, Manfred Ortmann und Bernd Lindner . Die 12 Soldaten bildeten die 5. Gruppe unter Leitung von Stabsunteroffizier Heinrichs und Hilfsausbilder Gefreiter Fritz, der 7. Panzergrenadierdivision, die später in die 7. Panzerdivision umgewandelt wurde.
In der Kleiderkammer hatten Zivilangestellte das Sagen und die arbeiteten alles gelassen und immer schön der Reihe nach ab. Alle samt waren sie Genies. Sie scannten Ankömmling mit bloßem Auge kurz ab und wussten, ohne nachzumessen oder nachzufragen, welche Größen die einzelnen künftigen Soldaten hatte. Egal, ob es die Anzuggröße, die Hutweiten oder die Stiefelgrößen waren. Beschwerden wie „Die ist mir zu groß“ oder „Das ist mir zu klein“ hörten sie wohl, aber ihre Gehirne waren für den Empfang derartiger Nachfragen nicht eingerichtet. So geschah es, dass ich eine Ausgehmütze in der Größe 62 erhielt, obwohl ich nur eine Hutweite von 59 cm hatte und mein Stubenkamerad Günther Eickmann dagegen hatte eine Hutweite von 62 cm und erhielt eine in 59 cm. Auf der Stube konnten wir uns vor Lachen kaum halten Günther mit meiner kleinen Mütze auf seinem großen Kopf sah aus wie ein besoffener Ulan und ich stand mit der großen Mütze im Dunkeln. Also begann der Tausch erst einmal auf unserer Stube und in den nächsten Tagen dann auch innerhalb unserer Gruppe. Irgendwann hatte jeder die Uniform, die ihm passte. Am frühen Nachmittag beruhigte sich die turbulente Szene etwas. Der Kompaniechef hatte angekündigt, dass er uns vor dem Abendessen noch offiziell begrüßen will und dafür war nachmittags Antreten in Uniform befohlen. Zum ersten Mal antreten war so eine Sache. Als wir erst einmal in Gruppen und Zügen geordnet standen, fingen die Kapos an uns der Größe nachzusortieren. Ich war im zweiten Zug. Rechts von mir stand Peter Grabs und links Günther Eickmann. Alle drei auf den Millimeter genau 1,80 m groß. Wir lagen alle drei mitten in Blickrichtung des Kompaniechefs und dem Spieß. Je nach Tagesform hing einer von uns auch mal etwas durch und der andere hatte das Kreuz einmal auf Spannung und schon waren wir nicht mehr gleich groß. Das Palaver begann. „Welcher Idiot hat euch den so hingestellt?“ Mit unserer Antwort hielten wir uns zurück, denn oft war der Fragende selbst der Idiot. Sie tauschten unsere Positionen eigenhändig um, griffen uns an die Ärmel und zogenund schoben uns wie hin und her.
Die nächsten drei Monate lief das beinahe täglich so ab. Um diese Zeit hatte der Wehrpflichtige Günther Mertens ein ganz anderes Problem. In der Mittagszeit stand er an der Bushaltestelle Wasserstraße, der Iserlohner-Kreisbahn in Fahrtrichtung Hemer. Obwohl Günther am liebsten nur kurzärmelige olivfarbene Hemden mit einer olivfarbenen Cordhose aus elastischem Material trug, hatte er für diesen besonderen Tag auch ganz besonders herausgeputzt. Im Sommer erwarb er bei SCHNUECKEL, an der Massener Straße ein neues lilafarbenen Hemd. Aber auch nur deshalb, weil der Verkäufer penetrant auf eine Typänderung drängte. So blieb das Hemd erst einmal den Sommer über im Kleiderschrank. Eigentlich war er keine Freund von besonders auffälligen Kleidungsstücken. Bequem und dezent, so liebte er es. Nach einem harten Ringen mit sich selbst wagte er es letztendlich mit der olivfarbene Cordhose und dem lilafarbenen Hemd die Reise antreten. Mit kleinem Gepäck in der rechten Hand und mit einer brennenden Ernte 23 in der Linken, wartete er auf seinen Bus.
Endlich fuhr der Bus mit quietschenden Bremsen vor. Der Fahrer war sehr spät dran und so holte er aus dem in die Jahre gekommenen Vehikel alles raus, was noch was der alte Motor schaffte. Er gab zügig Gas und knallte die Gänge rein, dass es nur so krachte. So ging es der Kaserne und einem neuen unbekannten Leben entgegen. Günther hatte auf dem freien Platz in einer Zweierreihe Platz genommen. Sein Nebenmann schaute ihn fragend an. Sie stellten sich vor: „Mein Name ist Manfred Lülf. ich komme aus Königsborn und muss zur Bundeswehr nach Hemer." Die beiden Leidensgenossen gingen sehr freundlich miteinander um, vielleicht deshalb, weil sie das gleiche Schicksal teilten. Sie fühlten sich beide unwohl, weil sie keine Ahnung davon hatten, was auf sie zu kommen wird. Günther sagte nach einem tiefen Seufzer zu seinem neuen Bekannten: „Bin gespannt, was das für ein Verein ist in Hemer ist“ Lülf erwiderte: „Ich auch!“
Achsenbruch am Bismarckturm...
Und dann passierte es. Sie hatten den Scheitelpunkt auf dem Haarstrang Wilhelmshöhe erreicht und freuten sich darauf, dass es nun flotter bergab gehen würde, als es plötzlich einen harten metallischen Krach unter dem Bus gab und dieser abrupt mit dem Hinterteil absackte und polternd über den Asphalt rumpelte. Der Motor heulte kurz auf, starb dann mit einem Knall aus dem Auspuff ab. Eine etwas dickliche Frau war vom Sitz gerutscht und saß nun im Mittelgang.
auf dem Boden Günther und Manfred, ganz Kavaliere, hievten sie wieder in ihren Sitz. Erschrocken und fragend sahen sich die Fahrgäste an und für einen kurzen Augenblick herrschte lautlose Stille. Die Fahrgäste schauten sich fragend an aber dann brach schlagartig ein allgemeines Geplapper aus. Jeder hatte eine Vermutung, was denn da wohl passiert sein kann. Motor verloren, Räder abgebrochen, über einen offenen Kanaldeckel gefahren usw...
Schaffner und Fahrer stiegen eiligst aus, gestikulierten neben der Öllache wild mit ihren Armen und schnauzten sich gegenseitig an. Den Fahrgästen saß der Schreck noch in den Gliedern, aber sie wollten nun endlich wissen, was passiert ist und wann es endlich weitergehen würde. Noch hatten die beiden Verantwortlichen keine Erklärung für die Panne gefunden. Nach und nach stiegen die Fahrgäste aus, um sich das Dilemma anzusehen. Erschrocken betrachteten sie den total schief stehenden Bus. Die Antriebswelle, die vom Frontmotor zur Hinterachse reicht, lag öltropfend unter dem Bus. Die Hinterräder hingen nur noch an wenigen Schrauben. Auf dem Asphalt bildete sich eine große schwarze Öllache. Die linke Federung an der Hinterachse war zusammengebrochen und hatte dabei die Kardanwelle aus dem Getriebe gerissen. Es sah sehr schlimm aus.
Einige Liter Getriebeöl liefen auf die Straße. Eine Reparatur vor Ort war unmöglich und so bemühte man sich eine andere Lösung zu finden. Der Schaffner lief zu dem nahegelegenen Gasthof und orderte telefonisch einen Ersatzbus. Viele Fahrgäste hatten Ideen, wie man den Bus wieder flott kriegt. Der Bauer Johannes Schulte-Kletthaus aus Uelzen sagte zu den Umherstehenden: „Habe sowas auch schon mal an meinem Trecker gehabt, das ist halb so wild, das kann man schnell flicken!“ In diesem Moment sackte der Bus noch etwas nach. Erschrocken sprangen die nahestehenden Menschen ein Stück zurück und die Frau des Bauer aus Uelzen kreischte:
„Ach Gott, was hätte da alles passieren können, mit dem Bus fahre ich nicht mehr!“ Die Gedanken in den Köpfen von Günther Mertens und Manfred Lülf kreisten nicht um diese unangenehme Panne, sondern vielmehr darum, wie die in Hemer das Zuspätkommen wohl aufnehmen werden. Ungeduldig sah Günther auf seine Armbanduhr. Glaubt man uns die Panne? Geschlagene zwei Stunden hat es gedauert, als der Ersatzbus der Iserlohner Kreisbahn eintraf. Dem Bauer aus Uelzen und seiner Frau war das egal, sie hatten heute nichts mehr vor, aber Mertens und Lülf saßen wie auf heißen Kohlen. Das ungemütliche Wetter sorgte dafür, dass sie noch vor dem Eintreffen in Hemer schweißgebadet waren. Und Günther schaute schon wieder auf seine Armbanduhr.
Von der Haltestelle in Hemer hatten sie noch etwa 400 Meter zu laufen und entsprechend aufgeheizt meldeten sie sich beim Wachhabenden und übergaben ihre Papiere. Der schaute auf die Papiere und dann auf die Ankömmlinge. Sein Gesicht verformte sich zu einer Mimik, die wohl nur Pförtner oder Wachhabende so zustande bringen können, nämlich total gelangweilt und doof gucken. Die beiden ahnten, dass die Grimasse wohl nichts Gutes zu bedeuten hatte. Auf dem Einberufungsbescheid stand zwar nur ein Datum und keine Uhrzeit, aber 18:00 Uhr war definitiv zu spät, das ging ja schon eher in Richtung Feierabend. Günther Mertens ergriff vorsichtig das Wort, um die Anspannung ein wenig zu lockern und sagte höflich, aber dafür völlig unmilitärisch:
Der Eingang in eine fremde Welt